Legendary Places

Legendary Places

Berlin in den 1980ern war ein Schmelztiegel, ohne dass es selbst davon wusste.

Back

Wo die Berliner Retrospektive heute ein klares Bild von System und Revolte dieser Zeit zeichnet, war damals noch nicht klar, wie besonders die 80er sein würden: als letztes Jahrzehnt vor dem Mauerfall, als letztes Jahrzehnt ohne die Ahnung der nahenden digitalen Transformation. In Westberliner Straßen nahe der Mauer dampfte die Wut über korrupte Politik, ihre Bauskandale, leerstehenden Wohnraum und die Polizei. Zugleich pulsierten die Subkulturen. Niedrige Mieten in unbegehrten Stadtteilen zogen Künstler von überall an. Die Hausbesetzerszene bot Raum und kreative Begegnungsstätte zugleich ... ein fruchtbares Klima für neue Ideen.

Lesen Sie hier weiter oder laden Sie den Artikel in Magazinform als PDF.

Legendary Places Artikel im Magazin-Format.pdf 13 MB

Die gute Saat sähen

Story image

Mitten in das surreale Soziotop West-Berlin kam 1983 ein junger australischer Musiker, der sein Glück in London gesucht und nicht gefunden hatte. Berlin bot mehr... mehr Nischen, mehr Verrückte, mehr Gegenkultur. Nachdem Nick Cave und seine Band The Birthday Party in Großbritannien stets Außenseiter waren, wurden sie in Berlin quasi mit offenen Armen empfangen. Man fand Gefallen an Künstlern, die niemandem gefallen wollten.

Story image

Dennoch bedeutete sein Anfang in Berlin das Ende der Birthday Party. Cave lernte Nick Dreher kennen, den Bassisten der experimentellen Post-Punker Die Haut, der ihn zu den Einstürzenden Neubauten schleppt. Mit deren Gitarrist, Blixa Bargeld, und dem Multiinstrumentalisten Mick Harvey, gründet er wenig später The Bad Seeds. In den Hansa Studios entstehen, in Sichtweite zu Mauer und Grenzsoldaten, mehrere Alben, dort wo schon Bowie wenige Jahre zuvor seine Berlin-Trilogie aufnahm.

Story image

Über die folgenden Jahre lebte Cave immer mal wieder in Drehers Loft in der Dresdner Straße in Kreuzberg bis es ihn 1990 nach Brasilien zieht.

Das Studio an der Mauer

Story image

Die Geschichte von Depeche Mode und Berlin ist die Geschichte von Some Great Reward. Das vierte Studioalbum der Synthiepopper steht heute symbolisch für den Durchbruch zur weltweit gefeierten Stadionband. Die vier Musiker aus Basildon nahe London hatten mit ihrem vorangehenden Album die Anklänge von Industrial-Sound hören lassen, die später ihr Oeuvre bestimmen und sie zur wohl erfolgreichsten Formation der elektronischen Musikgeschichte machten. Wichtiger Meilenstein: Das Jahr 1984 und die Kreuzberger Hansastudios. In der kreativen Küche Berlin, die auch Depeche Mode in ihren Bann zieht, wird ein neuer Sound geboren: Sampling ist jetzt fester Bestandteil der elektromusikalischen Klaviatur. Gareth Jones, britischer Produzent und heute Pionier digitaler Aufnahmetechnik, ermutigt die jungen Depeche Mode mit modernem Sampling neue Wege zu gehen, als er die Auf- nahmen in den Hansastudios leitet. Man hört es der Platte direkt an; das ist Depeche Mode, wie man sie heute kennt. Klanglich schroff, melodisch markant und irgendwo klappert und klöppelt Metall auf Metall. In den großräumigen Studios in der Köthener Straße in Kreuzberg werden heute noch Aufnahmen gemacht und Führungen angeboten.

Story image

 

Cover photo source: Sony Music Entertainment
Cover photo source: Sony Music Entertainment

Schwarz wie die Nacht

Cover photo source: Warner Music
Cover photo source: Warner Music

Wen wundert es in Berlin? Da vermietet man 1976 eine Wohnung in Berlin Schöneberg – und der Mieter gründet eine Kommune, streicht alle Wände pechschwarz und klebt die Fenster ab. Hier und da liefern sich Autonome einer noch nicht ganz in die Welt geborenen Hausbesetzerszene die ersten kleinen Schlachten mit den »Bullen«, Reste der außerparlamentarischen Linken demonstrieren durch die Straßen und Vermieterin Rosa Morath steht plötzlich mit einer leeren, schwarzen Wohnung da, die aussieht wie ein Verließ ohne Lichtschalter. Wem soll man dieses 7-Zimmer-Ungetüm denn bitte vermieten? Wenig später wird Mora von einer Künstlervertreterin angesprochen. Sie wolle die Wohnung für einen britischen Musiker mieten, wenn dieser die Räume nach eigener Vorstellung gestalten darf. So zieht David Bowie in die Hauptstraße in Schöneberg. Er hat Iggy Pop im Schlepptau, den er aus Kalifornien mitbringt und der ihm so konsequent das feine KaDeWe-Feinschmeckeressen aus dem Kühlschrank stiehlt, dass Bowie ihn bald ins Hinterhaus verbannt. Bowie beginnt mit »Low« seine als Experiment angelegte Berlin-Trilogie, hörbar beeinflusst von deutschen Bands wie Kraftwerk, Tangerine Dream, Cluster, oder Neu!. Tatsächlich begann Bowies Berliner Zeit bei Edgar Froese von Tangerine Dream. 2013 veröffentlichte Bowie zu seinem 66. Geburtstag mit »Where Are We Now« eine Video-Hommage an seine Berliner Zeit.

Story image

Mit der U2 durch die City

Story image

Als der heute welterfahrene, eloquente Bono 1993 durch die gerade wiedervereinte Hauptstadt stolperte, wusste er nicht so recht, wie ihm geschieht. Nach einer von vielen durchzechten Nächten in namenlosen Clubs aus Beton und Stahl wacht er in einer fremden Wohnung voller Menschen auf, weil ihm eine riesige Python über die Beine kriecht. Das war dann auch für den Frontmann einer der erfolgreichsten Bands des Planeten zu viel. Dabei kannte U2 die autonome Kiezkultur Berlins: In den Hansastudios in Kreuzberg hatte man Ende 1990 »Achtung Baby!« aufgenommen, das Album mit dem U2 sich selbst neu erfanden.

Original sleeve design: Steve Averill and Shaughn McGrath; Photography: Anton Corbijn
Original sleeve design: Steve Averill and Shaughn McGrath; Photography: Anton Corbijn

Kreuzberg und die angrenzenden Bezirke waren nach dem Mauerfall teilweise Niemandsland. Die großstädtische Version einer traumartigen Schrottplatz-Dystopie. Steine, Schutt und Altmetall prägten das Bild. In den Straßen parkten Trabis, die ihren natürlichen Lebensraum noch einige Jahre behaupten sollten. Die Eindrücke finden sich im Sound des Albums wieder: Dem Zeitgeist auf der Spur sollen auch Industrial-Sound und Drum-Computer eine Rolle spielen und der musikalischen Berlingeburt den Adrenalinkick Richtung Zukunft geben.

Heute ist »Achtung Baby!« das mutigste, aber auch dunkelste Album der Band, mit dem sie nicht nur ein Jahrzehnt hinter sich gelassen haben, sondern den bekannten U2-Sound gleich mit. Die anschließende Zoo TV Tour, in Anlehnung an die S-Bahn-Station Zoologischer Garten, brach weltweit Rekorde und manifestierte den Status der Band als innovative, multimedial arbeitende Künstler, die ihre Gesellschaftskritik unverschlüsselt zur Schau stellen.